Das Blutbad und seine Welt

„Sprache enthüllt. Es kommt vor, dass man die Wahrheit hinter einem Strom von Wörtern verschleiern will. Aber Sprache lügt nicht. Es kommt vor, dass man die Wahrheit sagen will. Aber Sprache ist wahrer als derjenige der sie spricht. Gegen die Wahrheit der Sprache gibt es kein Mittel… Philologen und Dichter kennen die Natur der Sprache. Aber sie könne nicht verhindern, dass die Sprache die Wahrheit spricht.“

Victor Klemperer

Es wurde schon öfter gesagt, dass das erste Opfer des Krieges die Bedeutung der Wörter ist. In Kriegszeiten wird jedes Wort zu Propaganda, hinter jedem Wort versteckt sich ein bestimmter Aufruf und eine gewünschte Wirkung, jede sogenannte Überlegung versucht das kritische Denkvermögen des Menschen auszuschalten. Aber, wie jener deutsche Philosoph sagte, der sich ab 1933 dem Studium des Nazi-Neusprech widmete: Sprache lügt nicht, sie drückt eine Wahrheit aus, sie drückt bei aller Manipulation, aller Deformation, aller Instrumentalisierung die wirkliche Essenz der Herrschaft aus.

Heute, zwei Tage nach den dschihadistischen Anschlägen in Brüssel, wird von einem „Blutbad“ gesprochen. Zurecht, zweifelsohne, aber diese Bezeichnung verliert ihre Bedeutung wenn andere Blutbäder nicht „Blutbäder“ genannt werden. Als das Assad Regime Fässer mit Nervengas auf die Außenbezirke von Ghuta abwarf, haben wir die verschiedenen Meinungsfabriken vom Dienst nicht das Wort „Blutbad“ verwenden gehört, um die industrielle Abschlachtung von fast zweitausend Menschen zu beschreiben. Wenn der Islamitische Staat Gegner enthauptet wird von „grauenhaften Exekutionen” gesprochen – was diese Taten durch einen Staat im Namen seiner Werte auch zweifelsohne sind – während die Drohnenangriffe in Pakistan, Jemen, Somalia, Afghanistan und anderswo, die seit 2006 mehr als sechstausend Menschen getötet haben, die Bezeichnung „chirurgische Präzisionsangriffe“ erhalten. Wenn hunderte Menschen bei einem Brand in einer Kleiderfabrik in Bangladesch umkommen, die Kleidung von Marken produziert, die auf der ganzen Welt verkauft werden, ist Sprache von einer „Tragödie“, um die Öffentlichkeit glauben zu lassen, dass es sich um ein Unglück handelt und nicht um eine auf der Hand liegende Konsequenz der kapitalistischen Produktionsweise. Während Bombardements auf kurdische Städte und Dörfer durch den türkischen Staat, der ein Verbündeter der Europäischen Union und NATO-Mitglied ist, „Operationen, um die Ordnung zu wahren“ sind. Die verwendeten Wörter und die Bedeutungen, die ihnen zugeschrieben werden, verraten ein Weltbild.

Das Blut, das Dschihadisten in der Brüsseler Metro und in der Abflughalle des Flughafens vergossen haben, erinnert uns an die Versessenheit der Dschihadisten gegen diejenigen, die mit Schreien nach Freiheit und Würde in Syrien und anderswo, in Aufstand gekommen sind. Es erinnert uns an die Revolutionäre, die durch Dschihadisten in den Gebieten, die sie kontrollieren, entführt, gefangen genommen, gefoltert und ermordet wurden. Es erinnert uns an das grauenvolle und blutige Regime, das sie so vielen Menschen in Syrien und anderswo auferlegen wollen. Es erinnert uns daran, dass, über dem Kadaver eines befreienden Aufstandes, die Reaktion, die darauf kommt, immer extrem und erbarmungslos ist. Es bestätigt wie schwierig es in der kommenden Zeit sein wird, um über das Kämpfen für die Freiheit zu sprechen, um die Feinde der Freiheit deutlich zu erkennen (jeden Staat, jede Autorität, jeden Chef), ohne dabei, für welche Seite auch immer, mit seiner Munition zu sparen.

Wie jeder von nun an verstehen kann, wird keine einzige antiterroristische Maßnahme, kein einziges militärisches Bataillon in den Straßen der Städte, kein einziges Kameraüberwachungs-Netzwerk verhindern können, dass diejenigen, die ein Maximum an Menschen töten wollen und selbst ihr Leben dabei lassen, zuschlagen und Blutbäder verursachen können. Der Staat kann dem Krieg kein Ende bereiten, der, trotz des Scheins von „friedlichen Staaten“, Teil ausmacht seiner Existenzberechtigung. Nur jene die den Krieg verweigern, können den Krieg wirklich beenden. Und jeden Krieg abzulehnen ist nur möglich indem man jede Autorität verwirft, die sich – das ist ihr Wesen – auferlegen will (das heißt: Krieg führen). Um ein konkretes Beispiel zu geben; es wird viel über die „Unterstützung“ gesprochen, welche die Dschihadisten in den Arbeitervierteln von Brüssel genießen sollen. Wenn das stimmen soll, wenn die Menschen in den Vierteln wissen wer den heiligen Krieg predigt, wenn jemand Informationen über die Vorbereitung eines Blutbades in den Straßen der Stadt hat, in der er wohnt, wenn sie wissen wer die Jugend rekrutiert, die leichte Beute sein soll für die reaktionäre Ideologie des Dschihadismus, sollen sie dann zur Polizei gehen müssen, in der Hoffnung, dass der Staat die Ordnung herstellt? Der gleiche Staat, der tausende Flüchtlingen ertränkt, der sich an Bombardements in verschiedenen Regionen der Erde beteiligt, der einsperrt und foltert, um seine Ordnung zu verbreiten, der, genauso wie Diktaturen des Typs Assad, selbst dschihadistische Bewegungen manövriert (man denke an jenen Mann, der Reisen, Pässe und Kontakte organisierte für zahllose Jugendliche, die nach Syrien aufbrachen und… ein Infiltrant der belgischen Bundespolizei war)? Nein. Sie müssen selbst handeln. Sie wissen wahrscheinlich besser als sonst jemand, wo und wie zuschlagen. Wenn der Staat keine Schafe aus uns gemacht hätte, abhängig und hilflos bis zu dem Punkt, an dem wir uns selbst nur noch notdürftig verteidigen können, wären wir zweifelsohne zahlreicher gewesen, um den Aktivitäten einer dschihadistischen Strömung in den Vierteln, in denen wir wohnen, ein Ende zu bereiten.

Aber dieser Gedankengang gilt auch für alle anderen, die Krieg predigen und den kapitalistischen Kannibalismus verteidigen. Auf dem Kadaver des Kampfes für die Freiheit blüht der Fortgang der Herrschaft. Wie kann man friedlich zwei Straßen entfernt von einem Forscher leben, der neue Waffen entwickelt? Wie kann man ohne etwas zu tun einen Staatsmann tolerieren, der die Politik von „push backs“ in die Tat umsetzt, noch so ein Ausdruck, um nicht „massenhaftes und absichtliches Ertränken“ zu sagen? Wie kann man jemandem nicht ins Gesicht schlagen, wenn er über „Freiheit“ spricht, aber die Ausbeutung von Milliarden meint? Bei jedem Schritt den wir zurück machen – jedem, ohne Ausnahme – nimmt die Reaktion immerzu mehr Raum des Kampfes für die Emanzipation, die Freiheit und das Ende der Ausbeutung ein.

Man wird uns sagen, dass es Zeit ist, um „über Religion zu sprechen“. Gut, aber nicht nur weil die Täter des Blutbads von Brüssel durch ihre religiösen Überzeugungen getrieben wurden. Wir werden darüber sprechen, weil es nämlich der Dschihadismus (die religiöse Autorität) ist, der zusammen mit dem Assad Regime (die laizistische Autorität) die Revolution in Syrien abgeschlachtet hat. Wir werden darüber sprechen, nicht nur über die islamitische Version, sondern auch über die wissenschaftliche und staatliche Version der Religion. Die Massenmorde, die im Namen von Allah begangen werden sind genauso widerlich, wie jene, die im Namen der Wissenschaft, des Fortschritts und des Geldes begangen werden. Wir kritisieren Religionen, alle Religionen, da sie ihre Autorität dem Individuum auferlegen wollen, da sie die Verneinung der Freiheit sind. Die apokalyptische Vision der Anhänger des Islamischen Staats existiert nicht ohne daran zu erinnern, dass die Staaten schon seit langer Zeit apokalyptische Instrumente (Atombomben, Kernzentralen) besitzen, um ihre Herrschaft abzusichern.

Die heutige Situation ist nicht ohne Vorgänger in der Geschichte, auf jeden Fall nicht was den Handlungsraum von Revolutionären und Anarchisten betrifft. Wenn die Anfangstage des Ersten Weltkriegs aller internationalistischer Hoffnung ein Ende bereiteten, läutete die Vernichtung der sozialen Revolution in Spanien im Jahr 1936 dunkle Jahre ein, welche die Revolutionäre dezimierten und zerrissen. Und als in den 80er Jahren durch die früheren Protagonisten des bewaffneten Kampfes in Italien das „Ende der Feindseligkeiten“ ausgerufen wurde, wurde auch der Raum für Subversion, der durch so viel Jahre des Kampfes und der Gefechte geöffnet wurde, wieder geschlossen. Und was sagen zur Aktion der Revolutionäre, in den unzähligen Kriegen, die überall auf der Welt Länder zerrissen haben? Der Raum für die antiautoritäre Subversion schrumpft heute ansehnlich und wir kommen in manchen Gegenden seinem kompletten Verschwinden sehr nahe.

Dieser Trend ist zweiteilig: Er macht die subversive Aktion besonders schwierig, durch die repressive Besetzung des Raums durch den Staat und scheint diese Aktion auf der anderen Seite in den Augen der anderen unbegreiflich zu machen. Der totale Ekel könnte uns dazu anspornen in einen dunklen Wald zu flüchten und zu hoffen, dass wir außerhalb von all dem bleiben können und das rote Blut die grünen Blätter nicht beflecken wird. Wenn es so einen Wald gibt, könnten auch aus diesem die Angriffe gegen die Welt der Autorität aufbrechen. Das Bewusstsein unserer Quasi-Entfernung vom Spielfeld, bedeutet nicht notwendigerweise, dass wir es auch verlassen müssen. Es kann ein Startpunkt sein, um auf ein neues die Begegnungspunkte zwischen Deserteuren des Krieges der Mächtigen zu vervielfachen. Das Ruder rumzureißen wird sehr schwierig sein, aber das heißt nicht, dass wir nicht zumindest probieren können, uns als Revolutionäre und Anarchisten die Mittel und Möglichkeiten zu verschaffen, uns zu verteidigen und anzugreifen, und neue Wege zu finden, um die Staatspropaganda (demokratisch, islamistisch oder anders), die den Geist und die Sensibilität verblendet, zu durchbrechen. Ein derartiger Versuch des Auflebens eines kämpferischen Anarchismus bedarf einer guten Dosis Mut und Courage, einer nicht verhandelbaren Ethik und theoretischer Klarheit über die Bedingungen der revolutionären Konfrontation. Und er kann nicht auf Staatsgrenzen reduziert werden, genauso wie er welche gegrabenen Gräben auch immer ablehnen muss, die heutzutage unveränderlich abstoßend sind.

Die Kritik gegen den Staat verschärfen, gegen alle Staaten (sowohl Demokratien als auch Kalifate), gegen alle Autoritäten, das ist was wir tun müssen. Und das unter immer ungünstigeren Bedingungen, wo die Perspektive der sozialen Revolution an den Rand gedrückt wird. Aber es ist auch höchste Zeit, um tiefgründige Diskussionen über diese revolutionäre Perspektive zu führen und über die Revolutionäre, die diese verteidigen sollen. Es liegt vor allem an den Anarchisten, die neuen Bedingungen des antiautoritären Kampfes zu analysieren und Kenntnis zu nehmen von der Tatsache, dass der Staat nicht nachlassen wird zu versuchen, jede störende Stimme und jede Tat, die sich ihm wiedersetzt, zu eliminieren. Wir müssen uns die Frage über die Methoden der Intervention und der Projekte des Kampfes stellen, die wir in den vergangene Jahren entwickelt haben, nachdenken darüber, wie wir uns in eine Perspektive des Kampfes platzieren, die sich in den kommenden Jahren abzeichnen wird. Sich weigern Teil der autoritären Lager zu sein kann nur der erste Schritt sein.

 Anarchisten, 24. März 2016